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Das Schweigen brechen: Wie KI den Überlebenden häuslicher Gewalt eine Stimme gibt
Die emotionalen und psychologischen Narben häuslicher Gewalt sitzen tief und sind eine schwere Bürde, die man eventuell für immer mit sich herumträgt – und oft allein. Erfahren Sie, wie Spring ACT, eine gemeinnützige Organisation, leistungsstarke KI einsetzt, um Überlebende häuslicher Gewalt zu unterstützen, zu begleiten und zu helfen.
Von Subarna Ganguly, Autoren
Zuletzt aktualisiert: 16. Dezember 2022
Bild mit freundlicher Genehmigung von Spring ACT
Demütigung. Wut. Verletztheit. Verrat. Schmerz. Angst. Panik. Schuldgefühle. Scham. Selbstvorwürfe. Verleugnung.
Dies ist nur ein Bruchteil der vielfältigen Emotionen, die bei Überlebenden häuslicher Gewalt ausgelöst werden und die meist im Stillen leiden. Viele sind sich nicht bewusst, dass sie Opfer sind, da sie die Anzeichen häuslicher Gewalt, die sich nicht immer durch offensichtliche körperliche Misshandlungen äußern, nicht immer erkennen oder wahrnehmen. Die emotionalen und psychologischen Narben häuslicher Gewalt sitzen tief und sind eine schwere Bürde, die man eventuell für immer mit sich herumträgt – und oft allein.
Die Angst, sich zu äußern und um Hilfe zu bitten, ist riesig und real. Durch den Prozess Amber Heard gegen Johnny Depp wurde zwar der Fokus auf das Thema häusliche Gewalt gerichtet, indem das Thema von den weltweiten Nachrichtenmedien aufgegriffen und in den sozialen Medien verbreitet wurde. Dennoch ist es schwer zu sagen, ob dieser massive Fokus den Überlebenden häuslicher Gewalt mehr geschadet als genutzt hat, da dadurch eine oft fehlgeleitete öffentliche Diskussion ausgelöst wurde.
Was vielleicht am wichtigsten ist, sind die Anzeichen für häusliche Gewalt und die Stellen, die den Opfern Hilfe anbieten. Dies war die Mission, die Rhiana Spring dazu veranlasste, Spring ACT zu gründen – eine gemeinnützige Organisation, die leistungsstarke KI und Bot-Technologie einsetzt, um Überlebende häuslicher Gewalt zu unterstützen, zu begleiten und zu helfen. Wir haben uns mit Rhiana Spring, der Gründerin und Geschäftsführerin von Spring ACT, getroffen, um mehr über ihre Geschichte, ihre Mission, ihre Werte und ihre bahnbrechende Arbeit zu erfahren.
Hoffnung wecken: Die Geschichte von Spring ACT
Rhiana Spring hat an der Harvard Law School und der London School of Economics studiert und anschließend eine Laufbahn im Bereich der Menschenrechte eingeschlagen. Zunächst konzentrierte sie sich auf die Unterstützung von Geflüchteten und arbeitete für die Vereinten Nationen, das Schweizer Außenministerium und verschiedene Rechtsabteilungen weltweit. „Ich habe an den Gerichten in Argentinien angefangen und dann in Ghana, den Philippinen, im Senegal und in Äthiopien gearbeitet. Damit hat alles begonnen“, erzählt Rhiana, Geschäftsführerin von Spring ACT, über ihren Werdegang.
Rhiana Spring und ihre stellvertretende Direktorin Diodio Calloga (ganz rechts) erhalten eine Auszeichnung vom Bundespräsidenten der Schweiz. Bild mit freundlicher Genehmigung von Spring ACT.
Als sie 2017 für die Vereinten Nationen in Westafrika arbeitete, kamen fünf Geflüchete in Rhianas Büro und baten um Hilfe. Sie waren fünf Jahre lang von Pontius zu Pilatus gelaufen und hatten versucht, in vielen dringenden Angelegenheiten Hilfe zu bekommen, unter anderem bei der Einschulung eines Kindes namens Emmanuella. Es war jedoch keine Hilfe in Sicht. Nachdem Rhiana vergeblich versucht hatte, verschiedene Stellen zu mobilisieren, probierte sie es mit ihrem eigenen Netzwerk. Und das funktionierte. Innerhalb eines Wochenendes wurden drei Lösungen gefunden, und Emmanuella wurde in die Schule eingeschrieben.
Inspiriert davon begannt Rhiana mit der Entwicklung eines Tools, das Menschen in prekären Situationen helfen sollte, die benötigte Hilfe zu erhalten – das Tool würde sie automatisch an die richtige Stelle weiterleiten. Dahinter stand die Idee, den Menschen zu helfen, sich angesichts der Flut an verfügbaren Informationen zurechtzufinden. Darüber hinaus reduzierte das Tool die Arbeitsbelastung der oft unterbesetzten und unterfinanzierten Einrichtungen, sodass die Mitarbeiter mehr Zeit für die hilfsbedürftigen Menschen haben.
Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie Anfang 2020 und dem damit verbundenen drastischen Anstieg der Gewalt gegen Frauen verlagerten sich ihre Prioritäten. Zusammen mit einer Handvoll Freunde passte Rhiana die Technologie an, um sich speziell auf häusliche Gewalt zu konzentrieren. „Sophia“ der weltweit erste Chatbot, der Überlebenden von häuslicher Gewalt hilft, wurde in der Schweiz geboren. Um die Vision, die allmählich Gestalt annahm, und den wertebasierten Ansatz zu unterstreichen, beschloss das Team 2021, als neue Organisation mit dem Namen Spring ACT weiterzumachen, wobei ACT für „Action. Compassion. Technology“ steht.
„Natürlich ist ‚Spring‘ mein Nachname“, erklärt Rhiana, „aber der Frühling (English ‚Spring‘) ist die Jahreszeit des Neubeginns, in der neue Pflanzen aus dem gefrorenen Boden sprießen und zum Leben erwachen. Der Frühling ist ein Symbol für Hoffnung, Stärke und Widerstandsfähigkeit, und das ist die tiefere Bedeutung dessen, wofür unsere Arbeit steht.“
Wissen ist Macht: Wie der Chatbot Sophia die Hilfe bei häuslicher Gewalt revolutioniert
Nach Angaben der Vereinten Nationen haben weltweit eine von vier Frauen und drei von vier Kindern schon einmal häusliche Gewalt erlebt. Erschwerend kommt hinzu, dass 60 Prozent der Überlebenden häuslicher Gewalt keine Hilfe suchen und 90 Prozent keine Anzeige bei der Polizei erstatten. Und nicht nur Frauen sind Opfer häuslicher Gewalt. „Viele Männer sind ebenfalls Überlebende häuslicher Gewalt“, erklärt Rhiana.
Die Forschungsergebnisse von Spring ACT zeigen, dass auch die wirtschaftlichen Kosten häuslicher Gewalt enorm sind:
366 Milliarden Euro Kosten für die europäische Wirtschaft pro Jahr
3,6 Billionen Dollar Lebenszeitkosten für häusliche Gewalt in der US-Wirtschaft
Kosten von 5 bis 10 % des BIP in den asiatisch-pazifischen Ländern
261 Milliarden Dollar Kosten für die Volkswirtschaften Lateinamerikas und der Karibik pro Jahr
30 % des BIP an Lebenszeitkosten für die afrikanische Wirtschaft
Sophia von Spring ACT ist ein Chatbot, der Überlebende häuslicher Gewalt rund um die Uhr hilft, egal wo auf der Welt sie sich gerade aufhalten, und der alle Informationen streng vertraulich behandelt. „Sie könnten sich im selben Raum neben dem Täter befinden und ohne dessen Wissen über den Chatbot Sophia um Hilfe bitten. Sie müssen keine App herunterladen und müssen sich nirgendwo registrieren. Der Chatbot ist vollständig verschlüsselt und Sie hinterlassen keine digitalen Spuren. Die absolute Anonymität und der Schutz der Privatsphäre, die bzw. den Sophia bietet, sind die größte Stärke und das Alleinstellungsmerkmal dieses Chatbots“, so Rhiana.
Überlebende häuslicher Gewalt können mit Sophia über ihre missbräuchlichen Beziehungen chatten, wie sie die Anzeichen für häusliche Gewalt erkennen, was sie wissen müssen, wenn sie den Partner verlassen möchten, und vor allem, wo und wie sie Hilfe finden. Außerdem können sie einen digitalen Safe einrichten, in dem sie potenzielle Beweise für den Missbrauch sammeln können, die bei Sorgerechtsentscheidungen, Scheidungsprozessen und dem Erwirken einstweiliger Verfügungen mit Unterstützung der Polizei verwendet werden können.
Überlebende häuslicher Gewalt können mit Sophia über ihre missbräuchlichen Beziehungen chatten, wie sie die Anzeichen für häusliche Gewalt erkennen, was sie wissen müssen, wenn sie den Partner verlassen möchten, und vor allem, wo und wie sie Hilfe finden. Außerdem können sie einen digitalen Safe einrichten, in dem sie potenzielle Beweise für den Missbrauch sammeln können, die bei Sorgerechtsentscheidungen, Scheidungsprozessen und dem Erwirken einstweiliger Verfügungen mit Unterstützung der Polizei verwendet werden können.
„Sophia hilft den Überlebenden häuslicher Gewalt nicht nur, ihre Rechte zu verstehen und nationale und lokale Unterstützung zu finden, indem sie sie mit Experten und Hilfsorganisationen zusammenbringt, sondern liefert ihnen außerdem Tipps, wie sie potenzielle Beweise sammeln können (z. B. wie sie fachgerechte Fotos von körperlichen Übergriffen machen).“
Spring ACT hat auch in der Schweiz und in Peru Unterstützungsangebote auf lokaler Ebene gestartet und expandiert weltweit, wobei die nächsten Erweiterungen in Senegal, Sierra Leone, Thailand, den Philippinen und im Vereinigten Königreich geplant sind. Die Organisation wird von einem engagierten neunköpfigen Team geleitet und von mehr als 80 Freiwilligen unterstützt. „Überlebende häuslicher Gewalt aus der Mongolei, der Dominikanischen Republik und sogar aus Ländern, in denen wir keine Freiwilligen haben, wie etwa Vietnam, haben sich an Sophia gewandt. Im Moment haben wir nur begrenzte finanzielle Mittel, und das ist unsere größte Herausforderung. Wir hoffen, dass wir mit den dringend benötigten finanziellen Mitteln in naher Zukunft auch in den USA und eines Tages auf der ganzen Welt Unterstützung anbieten können“, erläutert Rhiana.
Eine wichtige Brücke zwischen Überlebenden und Hilfsangeboten
Im Jahr 2021 trat Spring ACT dem Tech for Good-Programm von Zendesk bei und erhielt kostenlosen Produkt- und Implementierungssupport. Die Organisation nutzt Sunshine Conversations, um mit Überlebenden in Kontakt zu treten.
„Eine Software, die sich extrem einfach integrieren lässt, stellte für uns einen echten Wendepunkt dar. Sunshine Conversations ist das Herzstück von Sophia und hilft uns, Überlebende überall zu erreichen“, sagt Rhiana.
Im Oktober 2022 wurde Spring ACT mit einem Tech for Good Impact Award ausgezeichnet. Als einer der vier Top-Preisträger erhielt Spring ACT eine Finanzspritze in Höhe von 50.000 US-Dollar sowie Pro-Bono-Unterstützung.
„Wir sind begeistert, diese Anerkennung von Zendesk zu erhalten. Das bedeutet uns sehr viel. Die Finanzierung und die kostenlose Software werden uns neuen Schwung verleihen und uns beim Skalieren und dem Erweitern unseres Wirkungskreises helfen“, so Rhiana.
Die Geschichte von Spring ACT und dem Chatbot Sophia ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie uns künstliche Intelligenz, wenn sie richtig eingesetzt wird, helfen kann, menschlicher zu werden.
Sind Sie ein Überlebender häuslicher Gewalt? Um Sophia zu erreichen, können Sie „www.sophia.chat“ in Ihren Browser eingeben oder in Ihren Messenger-Apps (Viber, Telegram oder WhatsApp) nach „Sophia Chatbot“ suchen.
YouTube-Video über Sophia ansehen
Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung von Spring ACT.