Regierungen und Unternehmen reden sich die Köpfe heiß, wie man nach Ende der Lockdown-Bestimmungen die Wirtschaft wieder in Gang bringen kann. Hier fließen viele Überlegungen ein, darunter auch Wahrnehmung. Umfragen zeigen, dass die wenigsten Menschen vorhaben, zum alten Normalzustand zurückzukehren – wenigstens nicht gleich. Vielleicht aber auch nie. COVID-19 hat verändert, wie wir arbeiten, wann wir arbeiten und was wir in unserer Freizeit tun.
Um herauszufinden, wie die Welt nach COVID-19 aussehen könnte, haben wir uns an TrendWatching gewendet, ein Unternehmen für Verbrauchertrends. Es kann zwar nicht in die Zukunft blicken, hat aber immer den Finger am Puls der Zeit.
Kürzlich hat TrendWatching seine 10 Post-COVID-Trends publiziert. Wir haben uns mit David Mattin zusammengesetzt, der bei TrendWatching den klangvollen Titel „Evangelist at Large“ hat, und ihn um seine persönlichen Einblicke gebeten. Mattin ist Autor von „New World Same Humans“, einem wöchentlichen Newsletter, der globalen Umstürzen gewidmet ist, und sitzt im „Global Future Council on Consumption“ des Weltwirtschaftsforums.
Manches lässt sich sicherlich nicht prognostizieren, aber es gibt viele Informationen, die uns helfen, zu reagieren und zu planen. „Beim Nachdenken über diesen Moment halten wir uns einige der tief verwurzelten Trends vor Augen, die es bereits gab, und versuchen herauszufinden, wie sie durch diesen Umsturz beschleunigt werden“, sagt Mattin.
„Der große Reset“
Der Newsletter „New World Same Humans“ wurde zwar schon einige Zeit vor der Pandemie aus der Taufe gehoben, aber manches scheint er vorausgeahnt zu haben. In Version 9 verwendet Mattin einen Begriff, der relevanter nicht sein könnte: „The Great Reset“ – der große Reset.
„Beim großen Reset handelt es sich eigentlich mehr um eine Reihe von Fragen“, erklärt Mattin. Wir wurden eindringlich dazu angehalten, in den eigenen vier Wänden zu bleiben, unser Haus nur zur Erledigung notwendiger Geschäfte zu verlassen, auf Restaurantbesuche zu verzichten, keine Freunde mehr zu treffen und nur mit Menschen aus dem eigenen Haushalt zusammen zu sein. Ob wir es wollten oder nicht: Diese Situation zwang uns, intensiv über den Status Quo nachzudenken.
Manches lässt sich sicherlich nicht prognostizieren, aber es gibt viele Informationen, die uns helfen, zu reagieren und zu planen.
Wir lassen alte Verhaltensweisen Revue passieren und entwickeln gleichzeitig neue Gewohnheiten. Änderung ist immer mit Überwindung und Anstrengung verbunden. Aber jetzt, da sich unser Leben so nachhaltig verändert hat, fragen wir uns: Möchten wir wirklich zurück?
„Wir wissen, dass diese Beschränkungen irgendwann aufgehoben werden und wir wieder durchstarten können. Aber es stellt sich die Frage: Möchten wir wirklich zu den alten Verhaltensmustern und den gleichen ökonomischen Modellen von früher zurückkehren?“ Diese Frage stellt er sich sicher nicht als einziger.
Als Beispiel für etwas, was man im Rahmen des „großen Reset“ neu überdenken könnte, nennt er das Fliegen und andere Aktivitäten, die sich direkt auf das Klima auswirken.
Änderung ist immer mit Überwindung und Anstrengung verbunden. Aber jetzt, da sich unser Leben so nachhaltig verändert hat, fragen wir uns: Möchten wir wirklich zurück?
„Fliegen geht im Moment gar nicht. Aber was machen wir, wenn der ganze Spuk vorbei ist? Springen wir dann wieder wie vorher in den nächstbesten Flieger und jetten um den Planeten? Können wir uns das wirklich leisten? Oder sollten wir nicht vielmehr umdenken?“
Diese Zwangspause hat uns allen Gelegenheit gegeben, tief Luft zu holen und intensiv darüber nachzudenken, wie wir mit unserem Planeten in Zukunft schonender umgehen können. Wir haben die Möglichkeit, unsere Gepflogenheiten neu zu überdenken, alte Gewohnheiten über Bord zu werfen und einen echten Neubeginn zu wagen. Und einige dieser Schlüsseltrends können auch Unternehmen helfen, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken.
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Virtual-Experience-Ökonomie
Einer der Trends, der sich in der Welt nach COVID fortsetzen oder gar beschleunigen wird, ist die Virtual-Experience-Ökonomie. Seit einigen Jahrzehnten nimmt die Bedeutung von materiellen Anschaffungen als Statussymbol ab. Stattdessen ist es für unser Image oft wichtiger, was wir getan haben oder wohin wir gereist sind.
Die Bedeutung solcher virtuellen Erlebnisse ist in den letzten Jahren stark gewachsen, und die Tatsache, dass wir seit vielen Monaten quasi an unser Haus gekettet sind, hat diesen Trend nur verstärkt. Virtuelle Erlebnisse waren zuerst nichts weiter als ein Novum. Aber je „realer“ und immersiver sie werden, desto mehr horcht man auf, und der Widerstand gegenüber der „Echtheit“ dieser Erlebnisse fällt allmählich weg.
Wir haben die Möglichkeit, unsere Gepflogenheiten neu zu überdenken, alte Gewohnheiten über Bord zu werfen und einen echten Neubeginn zu wagen. Und einige dieser Schlüsseltrends können auch Unternehmen helfen, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken.
Version 1.0 des virtuellen Raums diente dem Erfassen von Informationen. In Version 2.0 drehte sich alles um Unterhaltung. Und jetzt steht Version 3.0 vor der Tür: die Domäne sinnstiftender Erlebnisse.
„Bestimmte Technologien wie Virtual Reality und Augmented Reality sind inzwischen ausgereift. Daher werden Erlebnisse in virtuellen Welten so real und so packend für die Menschen, dass sie quasi zu ihrem eigenen Statussymbol werden“, meint Mattin.
Das führt dazu, dass virtuelle Events nicht mehr nur als „fast so gut wie die Realität“ betrachtet werden, sondern echten Veranstaltungen absolut ebenbürtig sind. Vor zehn Jahren wäre ein Event im Rahmen eines Videospiels noch eine völlige Neuheit gewesen, nicht etwas, womit man bei seinen Freunden in irgendeiner Weise punktet. Heute jedoch treffen sich Leute in der virtuellen Welt von Nintendos „Animal Crossing“ und hosten dort sogar Hochzeiten. Eine kleine Oase der Normalität und Realitätsflucht in einer virtuellen Landschaft.
Im Jahr 2019 nahmen 10 Millionen Menschen an einem Live-Konzert innerhalb von Fortnite teil. Während des Konzerts von DJ Marshmello waren alle Waffen deaktiviert, und die Spieler konnten tanzen, über die Bühne fliegen und mit Strandbällen spielen. Und am 23. April 2020 schalteten sich 12 Millionen Menschen zu einem zehnminütigen Travis Scott-Konzert innerhalb von Fortnite zu. Die Zahlen wachsen, das Interesse steigt.
Das führt dazu, dass virtuelle Events nicht mehr nur als „fast so gut wie die Realität“ betrachtet werden, sondern echten Veranstaltungen absolut ebenbürtig sind.
Mit einem Großteil der Welt in Quarantäne ist ein deutlicher Anstieg der Angebote für virtuelle Erlebnisse zu verzeichnen. Museen laden ein zu virtuellen Rundgängen, Sie können die Färöer besuchen und dabei eine echte Person steuern, die durch die Landschaft spaziert, und wenn Sie Sehnsucht nach dem Meer haben, rufen Sie einfach eine Live-Webcam der schönsten Strände der Welt auf. Wir haben festgestellt, dass es möglich ist, direkt vom Wohnzimmersofa aus die Welt zu bereisen und neue Dinge zu erleben.
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Glas-Box-Marken und Mitarbeiter-Burnout
Sie haben zweifellos bemerkt, dass neuerdings in vielen aktuellen Werbekampagnen von den „besonderen Herausforderung der aktuellen Zeit aufgrund von COVID“ die Rede ist, dass Sie jedoch unbesorgt weiter dem Unternehmen Ihr Vertrauen schenken dürfen. Untermalt wird dies alles von sanfter Klaviermusik.
Das stimmt natürlich: Die Zeiten sind schwer. Aber Unternehmen müssen authentisch sein. „Ein Unternehmen mit auch nur einem Hauch an gesundem Menschenverstand sollte begreifen, dass es in diesem Moment am wichtigsten ist, Menschen und ihre ganz persönlichen Schwierigkeiten zu respektieren“, sagt Mattin. „Es muss authentisch und aufrichtig sein in dem Wunsch, seinen Kunden durch diese schweren Zeiten zu helfen. Der direkte menschliche Draht ist erst einmal am wichtigsten. Erst dann sollte man als Unternehmen oder Konzern operieren.“
Kampf dem Burnout
Vor COVID war die Welt, in der wir lebten und arbeiteten, wie ein Hamsterrad, das sich immerfort drehte. Daran mag sich auch nicht allzuviel geändert haben: Nachrichten prasseln nach wie vor von früh bis spät auf uns ein, und viele von uns können theoretisch jederzeit arbeiten, einfach durch Aufklappen unseres Laptops. Ständig buhlt irgendjemand um unsere Aufmerksamkeit.
Laut einer Studie von Deloitte sind 77 Prozent aller Erwerbstätigen mit dem Gefühl des Burnout an ihrem aktuellen Arbeitsplatz vertraut. Der Unterschied besteht darin, dass Verbraucher mit dem Konzept des Burnout inzwischen sehr wohl vertraut sind und haargenau darauf achten, wie Unternehmen ihre Mitarbeiter behandeln.
„Ein Unternehmen mit auch nur einem Hauch an gesundem Menschenverstand sollte begreifen, dass es in diesem Moment am wichtigsten ist, Menschen und ihre ganz persönlichen Schwierigkeiten zu respektieren“, sagt Mattin. „Es muss authentisch und aufrichtig sein in dem Wunsch, seinen Kunden durch diese schwere Zeiten zu helfen. Der direkte menschliche Draht ist erst einmal am wichtigsten. Erst dann sollte man als Unternehmen oder Konzern operieren.“
David Mattin
Der Anstieg der „Glas-Box-Marken”
„Glas-Box-Marke” ist ein von TrendWatching geprägter Begriff, der beschreibt, wie Konsumenten Marken unter die Lupe nehmen. Unternehmen sind längst keine Black-Box mehr. „Wenn man Marketing und Firmen verstehen will, muss man begreifen, dass wir heute in einer extrem transparenten Welt leben. Eine vernetzte Welt ist einfach transparent“, erklärt Mattin.
Zu einem transparenten Unternehmen gehört, dass die gesamte Unternehmenskultur nach außen gerichtet ist. Dem Unternehmen muss das unbedingt bewusst sein. Kunden beobachten haargenau, wie Unternehmen mit ihren Mitarbeitern umgehen, und vergleichen dies damit, wie sie als Kunden von den Unternehmen behandelt werden wollen. Wenn Ihr Unternehmen voller überforderter Mitarbeiter ist, die kurz vor dem Kollaps stehen, werden das die Kunden merken und sich von Ihnen abwenden.
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Kunden entgeht heutzutage nichts mehr. „Wenn sich zwischen Ihrer gelebten internen Unternehmenskultur und der Marke, die Sie nach außen hin vorzuspiegeln versuchen, Welten auftun, werden Ihre Kunden das herausfinden, und zwar deutlich schneller als früher“, sagt Mattin.
Wenn Sie mehr Kunden anziehen wollen, stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel – zeigen Sie ihnen, was Sie für Ihre Mitarbeiter tun. Damit setzen Sie den Grundstein für eine starke Kultur mit gelebter Empathie.
„Alles muss stimmig und authentisch sein. Als Unternehmen müssen Sie einfach etwas für Ihre Mitarbeiter tun – anders geht es nicht“, erklärt Mattin. „Das können Sie dann für Ihre eigenen Zwecke nutzen: Machen Sie publik, wie gut Sie Ihre Leute behandeln.“
Wenn Sie mehr Kunden anziehen wollen, stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel – zeigen Sie ihnen, was Sie für Ihre Mitarbeiter tun. Damit setzen Sie den Grundstein für eine starke Kultur mit gelebter Empathie.
Wie Konsumenten reagieren
„Das ist der Moment der Glas-Box“, so Mattin weiter. „Und zwar besonders, wenn es um Burnout und psychisches Wohlbefinden geht. Wenn ein Unternehmen seinen Mitarbeitern gegenüber nicht fair ist, ist es schwer, Kunden gegenüber Empathie zu simulieren. Unternehmen werden mehr und mehr zur Rechenschaft gezogen.“
Auf Websites wie Did They Help? verfolgen Kunden schon lange, wie bereitwillig Sie als Unternehmen ihnen helfen. Wenn Verbraucher die Wahrheit über Ihre interne Kultur erfahren, werden sie emotional und empathisch reagieren. Je nachdem, wie Sie als Unternehmen auf Kundenanliegen reagieren, kann das gut oder schlecht für Sie sein.
„Wenn Sie eine positive interne Kultur fördern und Ihren Mitarbeitern aktiv durch diese schweren Zeiten helfen, setzt das ein viel stärkeres Signal als alles, was in Ihrer Werbekampagne steht. Sie zeigen damit, wofür Sie als Marke stehen und woran Sie wirklich glauben“, sagt Mattin. „Gerade im Jahr 2020 haben viele Unternehmen ihren Kunden das Blaue vom Himmel herunter versprochen, aber Verbrauchern geht das inzwischen am Ohr vorbei.“
Wenn Verbraucher die Wahrheit über Ihre interne Kultur erfahren, werden sie emotional und empathisch reagieren. Je nachdem, wie Sie als Unternehmen auf Kundenanliegen reagieren, kann das gut oder schlecht für Sie sein.
In jüngerer Zeit mussten sich einige wohlbekannte Unternehmen für ihre interne Kultur rechtfertigen. Susan Fowler prangerte die sexistische Unternehmenskultur von Uber an, während sich die Lagerarbeiter von Amazon zusammenschlossen und offenbarten, wie schutzlos sie der Pandemie ausgeliefert waren. Einige dieser Industriegiganten dürften durch ihren „Too big to fail“-Status gedeckt sein. Dabei ist ihnen aber auch klar, dass Verbraucher selbst wählen können, wo sie ihr Geld ausgeben.
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Open-Source-Lösungen
Ein Trend, der den Glas-Box-Marken zugrundeliegt, ist, dass Verbraucher und Unternehmen derzeit den Zweck eines Unternehmens in Frage stellen. In den letzten Jahrzehnten besteht der Zweck eines Unternehmens primär darin, für Aktionäre Profit zu erwirtschaften. Das ändert sich allmählich.
„Wenn Sie zeigen möchten, dass Sie wirklich die Welt verbessern wollen, überlegen Sie sich, inwiefern Ihre Kompetenzen und Ressourcen Sie in die Lage versetzen, einer gemeinsamen globalen Herausforderung zu begegnen“, meint Mattin.
Der entscheidende Schritt ist, die Lösung öffentlich – also als „Open Source“ – verfügbar zu machen. „Ein Unternehmen, das auch im 21. Jahrhundert erfolgreich sein will, muss mehr tun als nur Geld zu verdienen“, erklärt er weiter. „Es muss daran arbeiten, die Welt für alle besser zu machen. Der einzige Weg hierfür sind Open-Source-Lösungen, also solche, die allen zur Verfügung stehen.“
„Wenn Sie zeigen möchten, dass Sie wirklich die Welt verbessern wollen, überlegen Sie sich, inwiefern Ihre Kompetenzen und Ressourcen Sie in die Lage versetzen, einer gemeinsamen globalen Herausforderung zu begegnen.“
David Mattin
Open-Source-Lösungen schaffen nicht nur eine bessere Welt, was sowieso immer das Richtige ist, sondern sind laut Mattin auch eine Art „aufgeklärtes Eigeninteresse“. Sobald Sie die Lösung erstellt und öffentlich zugänglich gemacht haben (und zwar auch der Konkurrenz!), haben Sie die Kontrolle über den Diskurs.
Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele. Eines der berühmtesten Beispiele ist Volvo und der 3-Punkt-Gurt, der auch heute noch der allgemein verwendete Sicherheitsgurt ist.
Momentan gibt es zahlreiche Unternehmen, die daran arbeiten, ihre Technologie weiterzugeben, damit andere sie auf ähnlich innovative Weise nutzen können. Zu nennen ist hier beispielsweise Allbirds mit seinem umweltverträglichen Schaumstoff: Das Unternehmen teilte seine Rezeptur dafür mit Amazon, mit der Empfehlung, sie zur Herstellung von nachhaltigeren Allbirds-Imitationen zu verwenden. Und McDonalds und Starbucks arbeiten gemeinsam an einer umweltfreundlichen Alternative zu Einwegbechern.
[Verwandter Beitrag: Marketing im Krisenmodus: heute anders als früher]
Änderung ist angesagt
Keine Frage: Wir stecken weiterhin im Krisenmodus und noch herrscht allgemeine Unsicherheit. Aber Verbraucher werden auf Marken und Unternehmen blicken, um zu sehen, ob sie ihren Teil dazu beitragen, die Welt wieder zusammenzusetzen. Vielleicht nicht so, wie sie einmal war – vielleicht besser als zuvor.
Was Unternehmen bereits heute tun können, ist, ihre interne Kultur zu hinterfragen und Maßnahmen zu ergreifen, um die nächstliegenden Probleme zu lösen. Und dann Ressourcen verfügbar zu machen, die Kommunen helfen, und neue Methoden zu finden, um Brücken zu schlagen.